
INTERVIEW
Zirkuläre Materialien:
Mehr Vielfalt für mehr Zukunft
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Nachhaltigkeit im Bauwesen umfasst eine Vielzahl von Themenfeldern, da der Bausektor etwa 40 Prozent des weltweiten CO₂-Ausstoßes verursacht. Ein wesentlicher Bestandteil des Nachhaltigkeitsbegriffs ist der Einsatz biobasierter, innovativer und kreislauffähiger Materialien. Diese kommen nicht nur beim Bau neuer Gebäude zum Einsatz, sondern auch bei Umbaumaßnahmen, Erweiterungen und im Fall des Re-Uses werden sie beim Abbruch ausgebaut, um anschließend wiederverwendet zu werden. Dazu haben wir mit Sandra Böhm und Elena Boerman gesprochen, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen an der Professur für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Beide sind unter anderem für die KIT-Materialbibliothek verantwortlich, die sich auf biotisch und technisch kreislauffähige Materialien fokussiert.
Was sind die größten Hebel, um nachhaltige Materialien endlich aus der Nische in den Massenmarkt zu bringen und was sind aktuell die größten Hürden?
Sandra Böhm: Zunächst muss die Frage geklärt werden, was der Begriff der Nachhaltigkeit in diesem Zusammenhang bedeutet – er sollte nicht oberflächlich und unscharf verwendet werden. In der Lehre und Forschung an der Architekturfakultät des KIT bevorzugen wir den Begriff der Konsistenz: Eine Konsistenzstrategie im Bauwesen umfasst die Etablierung geschlossener Stoffkreisläufe im Einklang mit natürlichen Kreislaufsystemen, um natürliche Ressourcen zu schonen und Abfälle zu vermeiden. Zudem beinhaltet sie die Nutzung erneuerbarer Energiequellen bei der Materialverarbeitung, um die Dekarbonisierung der in den Materialien gebundenen grauen Energie zu erreichen.
„Materialien oder Produkte sind kreislauffähig, wenn sie nach einer Nutzungsphase ohne Qualitäts- und Wertverlust und ohne Gefährdung von Fauna und Flora in geschlossene Kreisläufe zurückgeführt werden können."
Aus der Konsistenzstrategie leitet sich auch der Begriff der Kreislauffähigkeit von Materialien ab: Materialien oder Produkte sind kreislauffähig, wenn sie nach einer Nutzungsphase ohne Qualitäts- und Wertverlust und ohne Gefährdung von Fauna und Flora in geschlossene Kreisläufe zurückgeführt werden können. Nur so bleibt der Wert der eingesetzten Rohstoffe erhalten und es entstehen weder Abfälle noch schädliche Emissionen. Dabei sollte so wenig Primärmaterial wie möglich in Umlauf gebracht werden – stattdessen sollten wir die Materialien, die bereits in Gebrauch sind, nutzen und als Sekundärmaterialien immer wiederverwenden.
Kriterien wie die Recyclingfähigkeit und die Umweltauswirkungen eines Baustoffs, wie zum Beispiel die CO2-Emissionen, die bei der Rohstoffgewinnung und der Herstellung des Materials entstehen, spielen bisher keine ausreichende Rolle. Wir sind daher überzeugt, dass bereits die CO2-Besteuerung dazu beitragen wird, „nachhaltige“ Materialien zu fördern und aus ihrem Nischendasein zu befreien. Viele Materialien, die heute bereits im biologischen Kreislauf zirkulieren können, werden von kleinen Unternehmen hergestellt, die jedoch häufig an bürokratischen Hürden oder zu hohen Zertifizierungskosten scheitern. Deshalb erreichen ihre Produkte die breite Masse nicht, während etablierte mineralische und erdölbasierte Materialien in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben.
„Viele Materialien, die heute bereits im biologischen Kreislauf zirkulieren können, werden von kleinen Unternehmen hergestellt, die jedoch häufig an bürokratischen Hürden oder zu hohen Zertifizierungskosten scheitern."
Viele verbaute Baustoffe und Bauprodukte enthalten Verbundmaterialien, die schwer recycelbar sind. Welche Lösungen gibt es, um diese dem Kreislauf zurückzuführen?
Elena Boerman: Die sogenannte urbane Mine – also unser bereits bestehender Gebäudebestand – stellt eine enorme Herausforderung dar. Die Rückgewinnung der verbauten Materialien ist äußerst komplex, da für ihren Ausbau spezielle Geräte, handwerkliches Geschick und viel Zeit nötig sind. Der Hauptgrund: Diese Gebäude wurden nie mit Blick auf einen späteren Rückbau geplant. Angesichts der zunehmenden Knappheit natürlicher Ressourcen und unserer Verantwortung gegenüber dem Planeten sowie zukünftigen Generationen bleibt uns jedoch keine Wahl: Wir müssen verstärkt auf die Rückgewinnung und Wiederverwertung von Sekundärmaterialien aus dem Gebäudebestand setzen.
Je nach Baustoff gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wie diese Materialien wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden können. Diese gilt es klar zu definieren, um den allgemeinen Begriff des Recyclings zu präzisieren und die qualitativen Unterschiede der Verwertungswege besser zu beschreiben:
- Wiederverwendung: Ein Gegenstand wird erneut für denselben Zweck genutzt – Form und Funktion bleiben vollständig erhalten.
- Weiterverwendung: Die Form des Gegenstands bleibt erhalten, jedoch wird er in einem neuen funktionalen Zusammenhang eingesetzt.
- Wiederverwertung: Der Gegenstand wird in seiner Form aufgelöst, um das Material zur Herstellung des gleichartigen oder eines gleichwertigen Produkts zu verwenden – die ursprüngliche Funktion bleibt erhalten.
- Weiterverwertung: Auch hier wird die Form aufgelöst, jedoch dient das Material nun zur Herstellung eines Produkts mit geringerem Wert – was mit einem Funktionsverlust einhergeht.

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Quelle: RKW Kompetenzzentrum/2025, GettyImages_SensorSpot
Nach Untersuchungen des Umweltbundesamtes stammen nur circa elf Prozent der im Hochbau wieder eingesetzten Materialien aus sekundären Quellen – die Kreislaufführung von Baustoffen ist in der gängigen Baupraxis also noch längst nicht etabliert. „Recycelt“ wird in der Regel nur sauberer Verschnitt aus der Materialproduktion, im besten Fall bei Großbaustellen zusätzlich noch der saubere Verschnitt aus dem Materialeinbau. In den meisten Fällen ist es aber ökonomisch noch nicht rentabel, anfallende Abfälle zu sammeln und einem Recyclingunternehmen zuzuführen, da diese Unternehmen wesentlich größere Mengen benötigen. Beim Abriss bestehender Gebäude – was laut aktuellem Gebäudereport der Deutschen Energie-Agentur (dena) in fast zwei Dritteln der Fälle der Grund für einen Ersatzneubau am selben Standort geschieht – werden die einzelnen Materialien leider nur selten getrennt erfasst. Stahl wird häufig recycelt, da er in ein bestehendes Wertstoffsystem eingebunden ist und einen entsprechend hohen Materialwert besitzt. Alle anderen Baustoffe werden dagegen meist gemeinsam geschreddert, als Verfüllmaterial genutzt oder auf Deponien entsorgt. Selbst für problematische Materialien wie die EPS-Dämmstoffe (auch solche mit HBCD) oder Wärmedämmverbundsysteme existieren zwar Recyclingverfahren, die bislang jedoch nicht flächendeckend angewandt werden.
„Historische Beispiele wie das klassische Schwarzwaldhaus zeigen eindrucksvoll, dass selbst reine Holzbauten viele Jahrhunderte überdauern können – und das nur mit geringen Ausbesserungen und Sanierungsmaßnahmen."
Wie lang ist die Lebensdauer eines Gebäudes, das mit biologischen Materialien konstruiert wurde – und lässt sich diese mit Gebäuden aus konventionellen Baustoffen vergleichen?
Sandra Böhm: Historische Beispiele wie das klassische Schwarzwaldhaus zeigen eindrucksvoll, dass selbst reine Holzbauten viele Jahrhunderte überdauern können – und das nur mit geringen Ausbesserungen und Sanierungsmaßnahmen. Auch das Fachwerkhaus als ausgefachte Holzständerkonstruktion verbindet auf intelligente Weise mineralische und biologische Baustoffe und ist zudem besonders effizient energetisch zu sanieren. Nicht zu unterschätzen im Hinblick auf die Lebensdauer von Gebäuden ist auch die Qualität der verwendeten Materialien in Bezug auf die Raumluft und damit auf die Gesundheit der Menschen, die darin leben und arbeiten. Stellen wir uns daher die Frage: Verwenden wir zunehmend Materialien, die durch Ausdünstungen die Raumluft belasten – oder setzen wir auf solche, die weder Flora noch Fauna beeinträchtigen und zugleich die Innenraumluft verbessern können?
Für alle Gebäude, egal ob sie aus konventionellen oder biologischen Baustoffen bestehen, gilt: Die Planung in funktionalen Schichten sowie deren kreislaufgerechte Verbindung ist unerlässlich, um die jeweiligen Materialpotenziale optimal zu nutzen und ihre positiven Eigenschaften über die gesamte Lebensdauer des Gebäudes hinweg auszuschöpfen. Anschließend sollten diese Materialien in möglichst gleichbleibender Qualität zurückgebaut werden, um sie der Wiederverwendung oder der Wiederverwertung zuführen zu können.
Was ist für Sie das vielversprechendste Material (aus der Forschung), das in Zukunft eine breitere Anwendung in der Baupraxis erfahren sollte?
Elena Boerman: Das eine Material der Zukunft gibt es nicht – und genau das ist der entscheidende Punkt: In der Vergangenheit wurde immer wieder der Fehler gemacht, einen einzelnen Baustoff als Allheilmittel für sämtliche baulichen Herausforderungen zu betrachten.
Was wir jedoch brauchen, ist eine neue Offenheit für eine Materialvielfalt – insbesondere für solche, die kreislauffähig sind, also dauerhaft in biologischen oder technischen Kreisläufen zirkulieren können. Das erfordert mehr Wissen über Materialen und höheren Planungsaufwand bei ihrer kreislaufgerechten Kombination der Materialien untereinander – kann aber den entscheidenden Vorteil bringen, dass jedes Material entsprechend seinem Eigenschaftsprofil gezielt und effizient eingesetzt wird.
Haben Sie abschließend noch Anregungen für die berufliche Ausbildung im Hinblick auf biobasierte Baustoffe?
Sandra Böhm und Elena Boerman: Sowohl im Studium als auch – und vielleicht noch wichtiger – in der handwerklichen Ausbildung sollte die angesprochene Materialvielfalt nicht nur gelehrt, sondern auch praktisch gelebt werden. Nur so können junge Menschen in ihrer Ausbildung das notwendige Wissen erwerben, um unterschiedliche Arbeitsweisen, Gestaltungsstrategien und Entwurfsmethoden zu entwickeln und anzuwenden. Dabei ist es besonders wichtig, einen kritischen und reflektierten Blick auf den Einsatz von Materialien in Architektur und Bauwesen zu fördern – im Sinne einer langfristig angelegten Konsistenzstrategie.
Vielen Dank für die interessanten Einblicke!

Dipl.-Des. Sandra Böhm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
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M.Sc. Architektur Elena Boerman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
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Das Interview führte Laura Hess. Sie ist Mitarbeiterin bei der RG-Bau im RKW Kompetenzzentrum.
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