
INTERVIEW
Vom Hinterhof zur Herzensführung
Wie ein Biobäcker Nachhaltigkeit und Gemeinwohl gleichzeitig umsetzt
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Während viele Bäckereien ums Überleben kämpfen, wächst die Biobäckerei BioKaiser aus Wiesbaden weiter. Was als alternatives Kollektiv in den 1970er-Jahren begann, ist heute ein Vorreiter in Sachen Gemeinwohl, Achtsamkeit sowie werteorientierter Unternehmensführung. Im Interview erzählt Volker Schmidt-Sköries, Gründer der Biobäckerei Kaiser, wie aus der Vision, „die Welt zu verändern“, ein bei Kundschaft wie Arbeitnehmenden gleichermaßen beliebtes Unternehmen wurde – und warum Empathie, Sinnhaftigkeit, Menschlichkeit und echtes Teilen nicht nur das Team stärken, sondern auch wirtschaftlich erfolgreich machen – ganz ohne Discounterpreise.
Herr Schmidt-Sköries, wie kam es denn eigentlich zur Gründung der Biobäckerei Kaiser?
Schmidt-Sköries: Was heute Start-up heißt, hieß früher „alternativ“. Wir haben uns 1976 in einem Hinterhof in Wiesbaden als Alternativgruppe gegründet. Die Idee war: Wir wohnen zusammen, wir arbeiten zusammen in einem Kollektiv. Basisidee war eine sinngebende Arbeit, selbstverständlich mit natürlichen Rohstoffen und Backprozessen, also nicht entfremdet, sondern wir wollten uns gleichberechtigt in der Arbeit ausdrücken. Und das Medium war eben Brotbacken.
„Wir wollten die Welt verändern und Sinnvolles tun. Diese Idee ist bis heute geblieben."
Das war ja ein sehr spezieller Gründungsweg für eine Bäckerei, oder?
Schmidt-Sköries: Ja, tatsächlich hatten wir nur einen Bäckermeister, der hieß Theo Kaiser – daher der Name BioKaiser. Ich selbst habe Pädagogik studiert und war dabei, Lehrer zu werden. Merkte dann allerdings, dass ich mich so nicht entwickeln konnte. Wir wollten die Welt verändern und Sinnvolles tun. Diese Idee ist bis heute geblieben.
Von Anfang an hatten Sie auch das Thema Bio und regionale Produkte auf der Agenda, richtig?
Schmidt-Sköries: Wenn man nicht entfremdet arbeitet, kommt man relativ schnell auf die Rohstoffe und natürlichen Prozesse. Damals hatten die meisten Bäcker Fertigmehlprodukte aus Tüten. Die einzige Kompetenz, die als Bäcker benötigt wurde, war – überspitzt gesagt – lesen und wiegen können. Wir wollten aber sinnstiftend arbeiten und haben angefangen, uns mit dem Brotbacken zu beschäftigen und es uns quasi selbst beigebracht: Ernährungslehre und eben auch Rohstoffe. In der Garage im Hinterhof hatten wir eine eigene Getreidemühle stehen. Später haben wir fast alle zusätzlich eine Ausbildung zum Bäcker oder Konditor gemacht und haben vieles umgestellt: Helles Mehl und Zucker wurde aus der Backstube geschmissen. Ganz radikal, alles nur mit Vollkorn – daher „Vollkornbäckerei Kaiser“. Damals kamen Besucher aus aller Welt zu uns, weil wir absolute Exoten waren. Sie wollten sehen, wie wir zusammenleben und arbeiten. Sie müssen sich das so vorstellen: Sonntagmorgens stellte man sich die Frage: Gehen wir in den Zoo oder zu BioKaiser? So exotisch waren wir.
Zu BioKaiser natürlich! Sie waren ein absoluter Vorreiter, das ist wirklich beeindruckend.
Schmidt-Sköries: Ja, das war es. Damals war Bio noch gar kein Thema für die meisten Menschen. 2020 haben wir uns entschieden, eine Gemeinwohlbilanz nach der Gemeinwohlökonomie zu machen – obwohl wir bereits seit der Gründung sehr sozial unterwegs sind. Unsere soziale Grundhaltung hat sich im Grunde über all die Jahre nicht geändert. Wir haben ganz ohne Geld angefangen und alles von null aufgebaut. Dann sind wir gewachsen. In der ersten Zeit haben vor allem sogenannte „Alternative“ bei uns eingekauft – in Ökolatschen und mit langen Haaren. Und Prominente wie Harry Valérien waren unsere Kunden. Die haben uns natürlich ein Stück weit populär gemacht.
Dann sind in den 90er-Jahren plötzlich alle zu Discountern gefahren, denn „Geiz war geil“. Das war das Motto in diesen Jahren. Wir hatten sehr zu kämpfen damals. Allerdings hatten wir da bereits 30 bis 40 Mitarbeitende und haben immer noch im Hinterhof gebacken. Das war natürlich ganz schön laut nachts. Deshalb hat die Stadt Wiesbaden uns ein Grundstück in einem Gewerbegebiet angeboten – auch mit guten finanziellen Konditionen. So sind wir umgezogen.
Dann hat ein Freund von mir gesagt: „Mach doch mal Unternehmensberatung mit deinen ganzen Erfahrungen“, und dann war ich plötzlich bei den ganzen großen, bekannten Marken zu Gast und habe die Vorstände und die oberste Führungsebene trainiert – mit dem, was ich heute „Herzensimpulse“ nenne.
„Mir geht es nicht darum, auf den Mars zu fliegen, wenn die Erde kaputt ist. Wir müssen endlich kapieren, dass wir nur begrenzte Ressourcen haben."
Was bedeutet das – Herzensimpulse – und was ist Ihnen generell beim Thema Führung wichtig?
Schmidt-Sköries: Ich sage heute mit einer selbstironischen Haltung: Ich bin das Gegenmodell zu Elon Musk, weil der Empathie ablehnt. Für mich ist Empathie eine wesentliche Voraussetzung, um Unternehmen und damit Menschen zu führen. Empathie heißt, dass ich ein Stück Einfühlsamkeit lebe, dass ich mich, bildlich betrachtet, vor allem, was lebt, verneige: vor meinen Mitarbeitenden, vor den Kunden, vor der Natur. Und dass ich einen achtsamen Umgang pflege – denn alles Lebendige ist begrenzt. Mir geht es nicht darum, auf den Mars zu fliegen, wenn die Erde kaputt ist. Wir müssen endlich kapieren, dass wir nur begrenzte Ressourcen haben.
Das Zweite ist: Weil Leben begrenzt ist, heißt das auch, dass alles, was lebt, verletzbar ist. Die Menschen sind verletzbar, haben aber auch eine Chance, sich weiterzuentwickeln, über sich hinauszuwachsen. Das bedeutet: Wenn du mit Menschen arbeitest, willst du versuchen, dass sie weiterkommen mit ihrem Leben, dass sie einen Sinn finden, dass sie mehr Verantwortung übernehmen können.
Für alle Mitarbeitenden ist wichtig: Kompetenz im Umgang mit sich selbst, mit anderen, mit der Natur. Bei uns gibt es Coaching, denn wir sagen: Arbeit ist Lebenszeit. Für Führungskräfte ist das Coaching sogar Pflicht – das Auseinandersetzen mit sich selbst. Sie sollen schließlich das Unternehmen führen, und das wollen wir entwickeln.
Das „Vier-Stuhl-Prinzip“.
Dabei stehen die vier Stühle für vier Rollen. Bei einem beruflichen Gespräch nehmen die Gesprächsteilnehmenden unterschiedliche Rollen ein. Beide existieren im Arbeitskontext, aber eben auch als Mensch. Am Ende geht es immer darum, dass alle vier Stühle im Ergebnis vorkommen und die Teilnehmenden damit leben können.
Wie sieht der wertschätzende Umgang bei BioKaiser konkret aus?
Schmidt-Sköries: Dafür habe ich eine Methode entwickelt, sie heißt „Vier-Stuhl-Prinzip“. Das geht so: Stellen Sie sich vor, wir hätten ein Orientierungsgespräch. Ich wäre Ihr Chef und Sie wären meine Mitarbeiterin. Dann hat sozusagen jeder zwei Stühle (zwei Rollen). Der eine ist der Stuhl, auf dem ich in meiner Rolle als Chef sitze, und der andere, auf dem ich als Volker sitze – als Mensch. Sie haben auch einen Stuhl, auf dem Sie in Ihrer beruflichen Rolle sitzen, und einen, auf dem Sie als Mensch – als Sonja – sitzen. Und dann üben wir so lange ein Gespräch im Rollenspiel, ein Kritikgespräch oder eine Orientierung, bis jeder mit allen beiden Rollen im Einklang ist. Es ist ja nicht nur so, dass ich in meiner Rolle als Chef etwas sage, sondern ich sage Ihnen auch als Mensch etwas. Und Sie hören nicht nur in der Rolle als Mitarbeiterin, sondern auch als Mensch zu. Und alle vier Rollen müssen befriedet sein nach dem Gespräch – dann ist es gelungen.
Bei BioKaiser haben wir auch Manager, die aus konventionellen Unternehmen kommen und entsprechend anders agieren. Wenn wir die nicht bremsen, dann verlieren wir Leute – weil die Mitarbeitenden sich dann nur funktional benutzt fühlen.
Haben Sie denn Probleme, Personal zu finden?
Schmidt-Sköries: Natürlich ist es auch für uns aufwendiger als früher, Personal zu finden. Wir haben heute 350 Mitarbeitende und 45 Führungskräfte, ca. 15 Bäckermeister und 30 bis 40 Auszubildende. 60 Prozent der Mitarbeitenden sind unter 40. Viele, die von anderen Unternehmen zu uns kommen, sagen dann: „Schade, dass ich nicht schon früher hierhergekommen bin.“ Natürlich haben wir auch Mitarbeitende, die wechseln, aber wir finden immer wieder neue und engagierte Leute. Tatsächlich plane ich derzeit die Eröffnung weiterer Filialen.
„Wenn Sie ein Rückenproblem haben, können Sie das während der Arbeitszeit behandeln lassen – kostenlos."
Welche Vorteile genießen Ihre Mitarbeitenden bei Ihnen?
Schmidt-Sköries: Natürlich spielt die Bezahlung eine wichtige Rolle. Unser firmeneigener Mindestlohn liegt derzeit bei 14,32 Euro, während der gesetzliche bei 12,82 Euro liegt. Die anderen Lohngruppen sind entsprechend angepasst. Genauso wichtig wie das Gehalt ist aber der wertschätzende Umgang und wie sich das im Unternehmen ausdrückt. Wir begreifen BioKaiser als Schule und Lebensschule. Für jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter bieten wir Möglichkeiten zur Weiterbildung an, sowohl fachlich als auch auf sozialer Ebene. Wir beschäftigen sieben verschiedene Coaches, mit deren Hilfe persönliche und soziale Kompetenzen weiterentwickelt werden können. In unserer sogenannten Führungswerkstatt werden Themen wie Motivation, Konflikt- oder Teammanagement geschult. Derzeit haben wir regelmäßig einen Philosophen zu Gast, der in seinen Vorträgen Impulse „für Herz und Hirn“ gibt. Sein letztes Thema war Resilienz. Alle zwei Wochen kommt außerdem noch ein Körpertherapeut ins Unternehmen. Wenn Sie ein Rückenproblem haben, können Sie das während der Arbeitszeit behandeln lassen – kostenlos. Ein weiterer Benefit: Wenn wir über fünf Prozent Gewinn machen, zahlen wir „Mußestunden“. 20 Stunden im Jahr erhält jeder Mitarbeitende für Muße. Da kommt beispielsweise meine Assistentin zu mir und sagt: „Volker, kann ich mit meiner Mama an Weihnachten vier Stunden Plätzchen backen daheim?“ Und dann bekommt sie vier Stunden bezahlt. Meine Philosophie ist: „Arbeitszeit ist Lebenszeit“, und du musst als Unternehmen auch die Sinnfrage beantworten. Es muss ja Sinn ergeben, wenn es Lebenszeit ist, denn Arbeit ist nicht nur Funktionszeit, sondern auch Zeit zur Weiterentwicklung und Muße.
Ein ganz neues Projekt ist der „Kaiser-Notgroschen“. Das kam so: Wir hatten einen Mitarbeiter, der durch einen Schicksalsschlag wirtschaftlich abgerutscht ist. Dem wollten wir helfen, und daraus entstand die Idee für den „Einer für alle“-Fonds. Der Plan ist: Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter gibt 1 Euro monatlich in den Fonds, die Führungskräfte etwas mehr. So kommen wir auf ein paar hundert Euro monatlich. Kommt eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter in Not, geht er zum Betriebsrat und erzählt davon – und bekommt im besten Fall Geld aus dem Fonds. Vielleicht folgen uns in Zukunft auch andere Unternehmen.
Wie ist Ihre Beziehung zu den anderen Stakeholdern?
Schmidt-Sköries: Unsere Stakeholder sind vor allem die Landwirte, Müller und unsere Mitarbeitenden – sowie natürlich die Natur und Kultur. Letztere sind die sogenannten Stakeholder der Herzen. Das heißt, wir fühlen uns für die Natur, für ihren Erhalt verantwortlich. Wir begrenzen den Gewinn. Das heißt: Wenn unsere Umsatzrendite über fünf Prozent liegt, wird der Gewinn wie folgt aufgeteilt:
35 Prozent des Gesamtgewinns werden zur Bildung des Eigenkapitals verwendet und 30 Prozent fließen zu den Stakeholdern. Hauptstakeholder sind unsere Mitarbeitenden. Dort fließt auch der Hauptteil dieses Anteils hin. Die dritte Gruppe sind die sogenannten Stakeholder der Herzen wie Natur und Kultur. So bauen wir seit 15 Jahren Häuser in Indien und schaffen dort Wohnraum. 60 Prozent der Stakeholder sind gemeinnützige Stiftungen.
Wieso erhalten die Bauern noch zusätzlich Geld?
Schmidt-Sköries: Wir verabreden mit unseren Landwirten in den Erntegesprächen immer obere Marktpreise für das Getreide. Zusätzlich erhalten Sie dann noch eine festgelegte Prämie bei einer Gewinnausschüttung. Diese wird in der Erzeugergemeinschaft auf die einzelnen Bauern verteilt. Dazu folgendes Beispiel von vor zwei Jahren: Bei der Dinkelernte hatten einige Bauern sehr guten Dinkel, und andere – nicht weit entfernt – einen mit schlechter Qualität. Da spielen natürlich Starkregen und Trockenheit eine Rolle. Und was bedeutet das normalerweise? Den guten Dinkel verkauft der Bauer für die menschliche Ernährung – da erhält er einen guten Preis. Den schlechten verkauft er als Tierfutter – das heißt, dieser Bauer hat weniger Ertrag. In dieser Ernte haben wir beide Dinkelqualitäten genutzt. Die gute Qualität für unsere Produkte, die schlechtere als Streumehl in unserer Backstube. Für beide haben wir aber denselben guten Preis bezahlt.
Für mich persönlich gilt: Natürlich bin ich froh, dass ich jetzt wohlhabend geworden bin, aber das größte Glück ist für mich zu teilen. Ich will dieses Jahr wieder fünf Prozent Umsatzrendite – aber nicht, damit ich ein paar Euro mehr habe, sondern um es zu teilen. Um beispielsweise mehr Projekte in Indien zu unterstützen.
„Wer das Herz in die Ökonomie mitnimmt, der hat den Wettbewerbsvorteil."
Sie kümmern sich also darum, dass es allen Stakeholdern gut geht. Aber was bedeutet das ökonomisch? Können Sie so eigentlich erfolgreich sein?
Schmidt-Sköries: Wer das Herz in die Ökonomie mitnimmt, der hat den Wettbewerbsvorteil. Und die Leute spüren, wenn Sie herzlich zu ihnen sind. Dann kommen die Leute zu Ihnen, weil sie sich ernst genommen fühlen. Wir haben in letzter Zeit unheimlich viele neue Kunden gewonnen und verhandeln auch gerade mit großen Einzelhandelsketten. Im ersten Quartal war unser Wachstum zweistellig. In den letzten Monaten hatten wir die höchsten monatlichen Gewinne denn je. Das ist gerade in unserer Branche sehr ungewöhnlich.
Wichtig ist auch: Wir haben ein sehr professionelles Controlling. Aber wir nutzen das nicht in dem Sinne, dass ich noch 100.000 Euro mehr im Jahr verdiene. Mich interessiert dann, dass ich 100.000 Euro mehr habe, die ich teilen kann.
Das Wachstum finde ich erstaunlich, gerade weil Sie ja keine Discounterpreise haben.
Schmidt-Sköries: Richtig. Aber wir sind auch nicht teuer – wir haben Preise wie normale Handwerksbäcker und alles in Bio. Manche Biobäcker verkaufen heute ein Brot für 8 Euro. Das finde ich nicht gut, denn Partnerschaft heißt auch, dass die Kundschaft nicht unbegrenzt zahlen muss. Ich möchte, dass alle Menschen unser Biobrot kaufen können.
Vielen Dank, Herr Schmidt-Sköries, für dieses überaus inspirierende Gespräch!

Volker Schmidt-Sköries ist Gründer und Geschäftsführer der BioKaiser GmbH.
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Die Fragen stellte Sonja Müller. Sie ist Leiterin des Fachbereichs „Fachkräftesicherung“ beim RKW Kompetenzzentrum.
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