Die deutsche Bürokratie ist ein zweischneidiges Schwert: Ihre Gründlichkeit bietet Sicherheit und Ordnung, aber häufig steht sie Fortschritt, Effizienz und nachhaltigem Wirtschaften im Weg. Damit das System zukunftsfähig bleibt, braucht es tiefgreifende Reformen: Weniger Papier, mehr digitale Angebote, schlankere Prozesse und eine bessere personelle Ausstattung – das wäre ein Anfang. Denn Bürokratie darf nicht zum Selbstzweck werden. Sie soll den Menschen dienen – nicht umgekehrt.
Realität versus Idee
Die Bundesregierung hat das vierte Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) eingeführt, das am 1. Januar 2025 in Kraft getreten ist. Es zielt darauf ab, die Wirtschaft jährlich um rund 944 Millionen Euro zu entlasten. Zu den Maßnahmen gehören unter anderem:
Digitale Kommunikation: Arbeitsverträge und Zeugnisse können nun elektronisch übermittelt werden.
Vereinfachte Antragsverfahren: Anträge auf Elternzeit, Pflegezeit und Familienpflegezeit können in Textform gestellt werden.
Verkürzte Aufbewahrungsfristen: Die Aufbewahrungsfrist für Buchungsbelege wurde von zehn auf acht Jahre reduziert.
Zudem wurde der Schwellenwert für die Verpflichtung zur Abgabe einer monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung von 7.500 Euro auf 9.000 Euro angehoben, um kleine Unternehmen zu entlasten. Dennoch stehen deutsche Unternehmen weiterhin vor erheblichen bürokratischen Herausforderungen. Trotz der bereits gestarteten politischen Initiativen und gesetzlichen Maßnahmen bleibt der Abbau von Bürokratie ein zentrales Anliegen der Wirtschaft. Eine repräsentative Umfrage des SPD-Wirtschaftsforums zeigt, dass über zwei Drittel der deutschen Unternehmen übermäßige Bürokratie und langsame Genehmigungsverfahren als ihre drängendsten Probleme betrachten. Besonders junge Unternehmen leiden unter umfangreichen Dokumentationspflichten, die Wachstum und Innovation bremsen.
„Besonders junge Unternehmen leiden unter umfangreichen Dokumentationspflichten, die Wachstum und Innovation bremsen.“
Ko-kreatives Arbeiten im administrativen Kontext
Kreative und innovative Verwaltung bedeutet, dass Bürokratinnen und Bürokraten ihre Vorstellungskraft und ihren Ideenreichtum gezielt einsetzen, um aktuelle Herausforderungen flexibel und anpassungsfähig zu lösen. Sie hören aufmerksam zu, nehmen die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen ernst und handeln mit Empathie – ohne dabei die rechtlichen Rahmenbedingungen oder politischen Aufträge aus den Augen zu verlieren.
Kreative Bürokratie steht für ein Verwaltungshandeln, das kooperativ, partizipativ und experimentierfreudig ist. Statt top-down zu agieren, entstehen Lösungen oft von unten nach oben – durch gemeinsames Handeln, interdisziplinären Austausch und mutiges Ausprobieren im echten Leben. Kreative Verwaltungen arbeiten offen, transparent und mit einer gesunden Portion Demut. Sie wissen: Niemand hat alle Antworten. Deshalb fördern sie eine Kultur des Lernens, in der Fehler als Chancen zur Weiterentwicklung gesehen werden – im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern sowie Partnerinnen und Partnern aus allen gesellschaftlichen Bereichen.
Digital statt Dienstweg – Hamburg erleichtert Unternehmensgründung mit „One-Stop-Shop“
Wer in Deutschland ein Unternehmen gründen will, braucht vor allem eins: Geduld. Besonders kleine und mittlere Unternehmen (KMU) stehen oft vor einem unübersichtlichen Behördendschungel. Gewerbeanmeldung, steuerliche Erfassung, Meldepflichten bei Kammern oder Berufsgenossenschaften – bislang bedeutete das für viele Gründerinnen und Gründer eine Vielzahl an Formularen, Gängen zu unterschiedlichen Ämtern und lange Wartezeiten. Doch es geht auch anders.
Ein gelungenes Praxisbeispiel für erfolgreichen Bürokratieabbau in Form eines One-Stop-Shops liefert Hamburg. Bereits seit 2010 wird hier das Konzept des „Einheitlichen Ansprechpartners“ (EA) konsequent digitalisiert und nutzerfreundlich weiterentwickelt. Über das zentrale Serviceportal der Stadt können Unternehmen ihre Gewerbeanmeldung und viele damit verbundene Verwaltungsakte vollständig digital und gebündelt erledigen – ohne einen Fuß in ein Amt setzen zu müssen. Gerade für KMU eine enorme Erleichterung. Statt sich durch unterschiedliche Zuständigkeiten zu kämpfen, erhalten sie alle relevanten Informationen und Formulare von einer Stelle. Rückmeldungen, Bescheide und Nachfragen laufen digital – zügig und transparent. Auch internationale Gründerinnen und Gründer profitieren: Das Portal ist mehrsprachig und auf die Bedürfnisse eines diversen Wirtschaftsstandorts zugeschnitten.
Der One-Stop-Shop gilt inzwischen als Blaupause für andere Bundesländer – und zeigt, wie moderner Bürokratieabbau konkret aussehen kann: pragmatisch, digital und vor allem unternehmensfreundlich.
„Bürokratieabbau in Form eines One-Stop-Shops: Über ein zentrales Serviceportal können Unternehmen ihre Gewerbeanmeldung und viele damit verbundene Verwaltungsakte vollständig digital und gebündelt erledigen – ohne einen Fuß in ein Amt setzen zu müssen.“
Es lebe der Pragmatismus: Bürokratie am Bau? Ciao!
Das Online-Portal Bürokratie am Bau? Ciao! ermöglicht es Architektinnen und Architekten, Bauverantwortlichen und Handwerksbetrieben aus Nordrhein-Westfalen, überflüssige Bauvorschriften zu melden. Ziel ist die Vereinfachung der Landesbauordnung und die Reduzierung bürokratischer Hürden im Bauwesen und somit eine vereinfachte Planung sowie schnelleres, günstigeres und innovativeres Bauen in diesem Bundesland. Bereits seit 2019 verfolgt das nordrhein-westfälische Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung einen konsequenten Kurs beim Bürokratieabbau im Baurecht. Die Landesbauordnung wird seither kontinuierlich auf den Prüfstand gestellt – mit spürbaren Folgen: Zahlreiche bislang geltende Vorschriften wurden gestrichen oder deutlich vereinfacht. Mit der jüngsten Novelle, die zum 1. Januar 2024 in Kraft trat, geht Nordrhein-Westfalen einen weiteren Schritt in Richtung schlankerer Regelwerke. Die Änderungen bringen Erleichterungen in zentralen Bereichen – vom Wohnungsbau über landwirtschaftliche Bauten bis hin zum Ausbau von Mobilfunkinfrastruktur und Erneuerbaren Energien. Die Initiative gilt inzwischen als Leuchtturmprojekt. Experten sehen darin ein Modell, das auch auf Bundesebene Schule machen könnte – als pragmatischer Ansatz für weniger Bürokratie und mehr Tempo im Bausektor.
Ein Festival für innovative Bürokratie
Ein Ort, an dem innovative Bürokratieansätze gelebt und weitergegeben werden, ist das „Creative Bureaucracy Festival“, das einmal pro Jahr in Berlin stattfindet: Hier treffen sich mutige Changemaker aus der ganzen Welt, um gemeinsam Grundsätze, Prozesse und Praktiken der öffentlichen Institutionen neu zu denken. Das Festival motiviert, nach vorn zu schauen, Bedürfnisse zu erkennen und diese in Lösungen einzubetten. Das Ziel ist eine dem Menschen zugewandte, experimentelle Verwaltung, die zukunftsweisend agieren kann.
Das Festival schafft mit unkonventionellen Formaten und kreativen Elementen Räume, in denen Bürokratinnen und Bürokraten sich gegenseitig wertschätzen, sich miteinander vernetzen, relevante und dringliche Themen mit zentralen Beteiligten diskutieren, voneinander lernen und sich gegenseitig inspirieren und das Potenzial des öffentlichen Sektors erleben.
Ein Award für kreative Impulsgebende
Im Rahmen des Festivals werden jedes Jahr außergewöhnliche Menschen aus der Verwaltung und anderen Bereichen, die das Leben von Bürgerinnen und Bürgern sowie von Unternehmerinnen und Unternehmern nachhaltig verändert haben, mit dem renommierten „Creative Bureaucracy Festival Award“ ausgezeichnet.
Herausragende Preisträgerinnen und Preisträger:
Sophie Howe, 2024 Sie ist bekannt für ihre Pionierarbeit zum Schutz der Generationen von morgen, insbesondere als weltweit erste „Beauftragte für künftige Generationen“ in Wales. Bereits in jungen Jahren engagierte sie sich politisch und wurde mit nur 21 Jahren die jüngste gewählte Kommunalpolitikerin in Wales. Ihr Fokus lag dabei auf den Themen Gleichstellung und Jugend. Im Jahr 2016 übernahm sie die Aufgabe, die Umsetzung der Ziele des „Well-being of Future Generations Act“ sicherzustellen. Seit ihrem Ausscheiden aus diesem Amt im Jahr 2023 setzt sie sich weltweit für ähnliche Reformen ein.
Die Stadt Bogotá, 2023 Die Auszeichnung erfolgte für die visionäre Stadtentwicklung und das innovative Pflegesystem, das Pflegearbeit sichtbar macht und in den Mittelpunkt der Stadtpolitik stellt. Mit dem weltweit ersten städtischen Masterplan zur Pflegearbeit investierte die Stadt Bogotá 4,5 Milliarden US-Dollar, um soziale Ungleichheiten zu verringern und die Pflegebelastung von Frauen gezielt zu reduzieren.
2025 wurden erstmals die „Unsung Heroes“ gewählt.
„Mit den Unsung Heroes rücken wir Menschen ins Rampenlicht, die mit Mut und Beharrlichkeit Verwaltung jeden Tag besser machen – oft ohne dafür Anerkennung zu erhalten. Sie zeigen, dass Wandel im öffentlichen Sektor nicht nur von großen Reformen ausgeht, sondern vor allem von den vielen, die im Alltag kreativ und engagiert arbeiten.“
Johanna Sieben Festival Director, Creative Bureaucracy Festival
Eine nachhaltige und kreative Bürokratie hat das Potenzial, nicht nur die Verwaltung effizienter zu gestalten, sondern auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen zu gewinnen. Wenn sie richtig umgesetzt wird, kann sie als Motor für gesellschaftlichen Wandel und Innovation dienen – ein Schlüssel zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft, die den vielfältigen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte gewachsen ist.
Katja Gutschmidt ist Mitarbeiterin im Bereich „Kommunikation“ beim RKW Kompetenzzentrum. E-Mail schreiben
Eine App für alle Stadtbelange/Smart City Dialog Eine Open-Source-App, die Bürgerinnen und Bürger und Kommunen digital vernetzt. Sie ermöglicht lokale Informationen, Beteiligungsformate und Verwaltungsservices auf einer Plattform.
Beweg dein Quartier Das Projekt will Mobilität in zwei Testquartieren neu denken, Möglichkeitsräume eröffnen, neue Gewohnheiten etablieren und gemeinsam mit den Menschen vor Ort Projekte für eine bessere Mobilität der Zukunft und mehr Lebensqualität im Quartier entwickeln – und so zur Reduzierung der CO2-Emissionen beitragen.
SmartWater Konzept zur Klimaanpassung in Berlin, um die Resilienz städtischer Strukturen zu stärken, also ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber den Folgen des Klimawandels, und gleichzeitig die Lebensqualität der Stadtbevölkerung zu verbessern.
Verwaltungsrebellen Mit der Initiative Verwaltungsrebellen sollen kreativ agierende Menschen in Verwaltungen sichtbar gemacht und Impulse für Veränderungen gegeben werden.
The_Creative_Bureaucracy.pdf Wegweisendes Buch (und natürlich Grundlage des Festivals) zur Idee einer innovationsfreundlichen Verwaltung.
Home/FÖV Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung. Es untersucht öffentliche Verwaltung auf allen Ebenen, von kommunalen Einheiten bis zur europäischen und internationalen Ebene, und zeigt Möglichkeiten für deren Weiterentwicklung und Verbesserung auf.